Montag, 23. März 2009

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Als ich mich fragte, wer diese Kacke tief im Wald an einem von Menschen sehr unbegangenen Ort wohl abgesetzt haben mag, wusste ich noch nicht, dass es eine Enzyklopädie der Kacke gibt. Ich tippe ja auf Wildschwein, weil Wildschweine gibt es in unserem Wald eine Menge, eine Rotte oder mehrere Rotten; und es ist ein Wunder, dass ich nur drei solcher Haufen, wie auf dem Foto abgebildet, gefunden hab. In Oliviero Toscanis Enzyklopädie Cacas mangele es an Bildern, dass man sich eine Vorstellung machen könne von den Tieren, deren Hinterlassenschaft das Buch präsentiert, bedauert ein Rezensent. Im hiesigen Wald geht es mir leider nicht anders.

Die Kacke, die vielleicht einem Wildschwein gehört hat, ist vom Februar und zum Zeitpunkt der photographischen Aufnahme tiefgefroren. Kann ich mit tiefgefrorener Kacke bedenkenlos spielen? Einer der ersten Texte auf unerzogen.de handelt über das Spielen mit Kacke . Dort wird auch So ein Kack empfohlen. Keine Enzyklopädie, ein Kinderbuch von Pernilla Stalfelt. Darin steht ein Haufen Zeugs, das mit Kacke und Kacken zu tun hat; warum ein Kind Windeln braucht, lässt allerdings schon in der Fragestellung vermissen, dass es auch ohne Windeln geht.

Mit den gefriergetrockneten Kötteln aus Abbildung 2 ließe sich gut Kalaha spielen. Immerhin ist Kalaha das älteste Brettspiel der Welt.





Wer an einem einsamen Ort kackt, ist vermutlich ein scheues Tier. Ein Reh vielleicht.




Nachtrag: Lisa hat passend zum Thema noch einen süßen Film ausgegraben.

Mittwoch, 11. März 2009

Was ist Erziehung?

Eine weitere These

siehe dazu auch den Beitrag Was ist Erziehung. Eine These.

Erziehung ist eine Haltung.

Die Idee, jemanden zu erziehen, geht zusammen mit jener Haltung, die ein_e Herrscher_in der/dem Unterdrückten, Beherrschten gegenüber einnimmt. Die Erziehungshaltung ergibt sich aus der Herrschaftshaltung/aus dem Herrschaftsanspruch.

Astrid Albrecht-Heide, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft der TU Berlin, verdeutlicht den Herrschaftsblick zunächst am ausbeuterischen Umgang von uns Menschen mit der Natur. Sie sagt, weiße Erziehungswissenschaft basiere auf jenem Naturverständnis, wonach die Natur bloßer Liefarant für Rohstoffe ist. "Die Verrohstofflichung erzwingen 'wir' durch Distanzierung, Entmoralisierung, Entsakralisierung und Dynamisierung." (Albrecht-Heide, 2006, S.447)

Entmoralisierung
bedeutet mit Blick auf die Natur, ihr keinen anderen Wert mehr zuzuordnen als den, den ich durch meine verändernde Hinwendung zu ihr erschaffe. Ist es nicht auch bei Kindern so, dass die Art der Hinwendung, die von Eltern gesellschaftlich erwartet wird, eine gestaltende, machende, in die Kinder hineinwirkende ist. Entsakralisierung ist die Entzauberung und Profanisierung der Natur. Nach meinem Verständnis führt die bloße Entschlüsselung von Naturphänomenen mit Hilfe beispielsweise der Physik und der Chemie nicht zwangsläufig zu einer Profanisierung. Die tritt m. E. erst ein, wenn ich die erschlossenen Erkenntnisse zur allgemeingültigen Wahrheit erkläre und sie allein der Rechtfertigung meines Zugriffs dienen. (Anm. 2) So werden Rhythmen des Säuglings bei der Nahrungsaufnahme, beim Schlafen und Wachen etc. erforscht, um Fütterungszeiten in der Ratgeberliteratur angeben und Schlafprogramme entwickeln zu können, die in die hiesigen gesellschaftlichen Gegebenheiten hineinpassen. Der Zusatz, jedes Kind sei natürlich ein Individuum und könne daher aus dem Raster fallen, verkommt zur Floskel. Dynamisierung, erläutert Albrecht-Heide, ist dann die Zugriffstendenz. Sie verbindet sich "[...] mit der Behauptung, dass 'unsere' Zugriffe zur Veredelung, Verbesserung, kurz Kulturalisierung führen." (Albrecht-Heide, 2006, S.447)

Distanzierung ist die Voraussetzung für 'unsere' Herrschaft. Der Abstand, den ich zwischen mich und mein Gegenüber bringe, indem ich den objektiven Blick behaupte.

Martin Bubers Dialogisches Prinzip leuchtet mir bis dahin am ehesten ein, um Distanz und All-ein-sein zu unterscheiden. Buber sagt, ich könne zweierlei Haltung zur Welt einnehmen. Er fasst die Haltungen in die Grundwörter Ich-Es und Ich-Du. Sage ich Du, dann spreche ich das Ich des Grundwortes Ich-Du mit. Sage ich Es, dann spreche ich das Ich des Grundwortes Ich-Es. Ich kann auch Du sagen und Es meinen. "Die Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet Beziehung." (Buber, 1962, S.10) Das eine Grundwort (Ich-Du) steht für mich für mein Sein in der Welt, das andere für Distanz.

Wenn ich mich distanziere
, bedeutet das im buberschen Weltbild, wie ich es verstehe, ich trete aus der Ich-Du-Beziehung heraus. Was vorher Du in meiner Ansprache war, wird zum Es des buberschen Grundwortes Ich-Es. (Buber, 1962, S. 7-8) Buber vertritt, was die Beziehung des Lehrers/der Lehrerin zu seinem/ihrem Schüler//seiner/ihrer Schülerin betrifft, die Ansicht, der Lehrer oder die Lehrerin müsse zwar zwar den Schüler oder die Schülerin

[...] als diese bestimmte Person in ihrer Potentialität und ihrer Aktualität meinen, genauer, er muss ihn nicht als eine bloße Summe von Eigenschaften, Strebungen und Hemmungen kennen, er muss seiner als einer Ganzheit inne werden und ihn in seiner Ganzheit bejahen.

Er/Sie müsse

[...] damit seine Einwirkung auf ihn eine einheitlich sinnvolle sei, [...] diese Situation jeweils nicht bloß von seinem eigenen Ende aus, sondern auch von dem seines Gegenübers aus in all ihren Momenten erleben; er muss die Art von Realisation üben, die ich Umfassung nenne.

Aber die Schülerin und der Schüler ihrerseits dürften ihre Lehrkraft nicht als diese bestimmte Person meinen und bejahen.

[...] so könnte doch die besondere erzieherische Beziehung nicht Bestand haben, wenn der Zögling seinerseits die Umfassung übte, also den Anteil des Erziehers an der gemeinsamen Situation erlebte. (Buber, S.131) (Anmerkung 1)

Bubers Erklärung widerspricht Albrecht-Heide zunächst. Bei Buber dürfen Lehrer und Lehrerin in unmittelbarer Beziehung zum Schüler/zur Schülerin stehen, Schüler und Schülerin zu Lehrer und Lehrerin aber nicht.

Ob das Ich-Du-Verhältnis nun endet oder aber den ganz andersartigen Charakter einer Freundschaft annimmt, es erweist sich, dass der spezifisch erzieherischen Beziehung als solcher die volle Mutualität versagt ist. (ebenda)

Und darin stimmen Buber und Albrecht-Heide wieder überein, dass es einen Abstand zwischen Erzieher_in und Zögling gibt. Auch bei Buber muss die Distanzierung letztendlich vom Erzieher/von der Erziehrin ausgehen, denn naturgemäß hat nur dieser/diese ein Interesse am Bestand der erzieherischen Beziehung. Die Haltung von Lehrer und Lehrerin ist von Bedeutung, denn welches Interesse sollte der oder die zum Zögling erkorene haben, sein/ihr Gegenüber als Objekt zu sehen, wenn das Gegenüber keinen Anlass dazu gibt?

(1) "Es gibt jedoch auch manches Ich-Du-Verhältnis, das sich seiner Art nach nicht zur vollen Mutualität entfalten darf, wenn es in dieser seiner Art dauern soll. Als solches Verhältnis habe ich an anderem Ort das des echten Erziehers zu seinem Zögling charakterisiert." (Buber 1962, S.130)

(2) "So entsteht in Europa die paradoxe Situation, dass die historische Neuheit, Kindheit als eigenständige Phase zu begreifen, mit der Hinwendung zugleich als enteignender Übergriff erfolgt." (Albrecht-Heide, S.449)

Literatur:
Albrecht-Heide, Astrid (2006) Weißsein und Erziehungswissenschaft. In:
hrsg. v. Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.) (2006) Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Unrast Verlag.

Buber, Martin (1962) Das Dialogische Prinzip. Gerlingen 7. Auflage 1994

Donnerstag, 5. März 2009

Trauriges Buch

Liebe Toni Morrison mit Slade Morrison,

eure Geschichte The Big Box hat mich traurig gemacht. Und dabei ist sie doch das Leben! Deshalb.

Drei wahre Geschichten. Drei wirkliche Kinder und was die Erwachsenen hier und jetzt mit ihnen machen. Ich lese es meinen Kindern vor und sie erkennen darin wieder, wie mit ihnen und mit "ihresgleichen" umgegangen worden ist. Sie wissen, dass es Orte gibt, wo Kindern solches, was im Buch beschrieben, täglich widerfährt. Eine Schule, die täglich ihren Stempel setzt. Ein Kindergarten, der Benehmen verlangt. Nicht zuletzt Eltern, die ausdrücken: Du bist nicht richtig, Kind. Du musst dich ändern.

Was ist die Big Box? Eine Erziehungsanstalt? Nicht die Erziehungsanstalt im üblichen Sinne. Die Kinder werden eingesperrt in einer Welt mit allem Komfort. Was fehlt sind Himmel und Möwengeschrei. Drei Schlösser trennen die Kinder von der Welt, wo Biber, Baum und Vögel leben. Solange, bis die Kinder nach den Regeln der Erwachsenen funktionieren, wird ihnen die Fähigkeit abgesprochen, über sich selbst zu bestimmen. Die Erwachsenen maßen sich an, über die Kinder zu bestimmen.
Die Big Box, die Kinderkiste in der deutschen Übersetzung des Buches (übersetzt von Thomas Piltz), ist nicht mal eine besonders hochgeschraubte und deswegen seltene Form der Anmaßung. Sie ist überall da, wo Kinder emotional vernachlässigt werden. Wo das soziale Bedürfniss junger Menschen, was zugleich Kompetenz ist, verkannt wird. Wo Menschen andere Menschen als Objekte wahrnehmen, die "sozialisiert" werden müssen, angepasst und eingefügt, zurechtgestutzt; wer nicht der Norm entspricht, wird genormt. Das Erziehen vernachlässigt emotional. Erziehen geht gegen die Gefühle mindestens derer, die erzogen werden.

Ebenso wie die Frage nach der Big Box hat mich das Ende des Buches beschäftigt. Wie kommen die Kinder aus der Kiste wieder raus? Sind sie dann genauso wie die Erwachsenen und beschränken sich freiwillig, maßregeln sie sich mit Überzeugung und erinnern sie sich nicht mehr an die Zeit in der Kiste? Das Buch zeigt keinen Weg, sich aus einer Big Box zu befreien. Es zeigt nur den Weg hinein und das traurige Leben im Innern. Aber vielleicht ist das Buch selbst der Weg. Als Kinderbuch mit wunderbar ausdrucksreichen Bildern (gemalt von Giselle Potter) gelangt das Buch wie von selbst in Erwachsenenhände. Die Erwachsenen lesen es den Kindern vor und bis sie merken, was sie da angefangen haben, werden sie schon ungeduldig aufgefordert, nur ja weiterzulesen, nicht aufzuhören. Und die Kinder fühlen sich den drei Kindern im Buch nahe und die Erwachsenen können nicht umhin, sich selbst im Buch auf der einen wie auf der anderen Seite wiederzufinden. Das Buch gibt Kindern Worte und Bilder, und Erwachsenen auch.
Dafür danke ich euch, Slade, Toni und Giselle!

Toni Morrison mit Slade Morrison (2000) Die Kinderkiste. Reinbeck bei Hamburg

ein anderes Buch von S. und T. Morrison vorgestellt unter Böses Buch