Freitag, 28. Januar 2011

Das Leben ist ein Zuckerschlecken


Mein Mund ist ein Organ des Begreifens. Er zieht Dinge von außen nach innen und bringt Dinge von innen wieder hervor. Nebel hängen vor den Mündern. Was habe ich zu geben außer Wasser und Luft? Innen warm, immer feucht; selten trocken, eigentlich nie. Im Mund fühlt sich Geborgenheit an. Er weiß mehr als ich. Ich will ihn danach fragen. Die Bleistiftmiene, der Lack und das Holz prägen ihren Geschmack in mein Gedächtnis wie die Zähne ihre Spuren in den Wasserlack. Wenn das Holz von der eigenen Spucke quillt, dann schmeckt es ein wenig auch nach mir. Mehr noch und salziger die Innenfläche meiner linken Hand, während die rechte in den Schulstunden Herzen malte. Der Mund erinnert sich an ihren Geschmack in den Stunden gegen Ende eines Schultages. Das Leben ist ein Zuckerschlecken. Schnee wird noch einmal so kostbar, wenn E. ihn kostet. Eiszapfen hängen wie ein süßes Versprechen unter Dachrinnen und von viel zu hohen Laternen und ganz in Bodennähe an Autokarosserien. Das Leben. An manchen Tagen schmeckt Sahne bitter und Schokolade klebt zwischen Zunge und Gaumen. Kein Gedanke an Zuckerschlecken, und Übelkeit bei jedem Versuch, einen Gedanken zu fassen. Die Kindheit. Verbotsschilder auf dem Weg zu meinem Mund, zwei oder mehr an meinen Lippen wie die Aufkleber auf Briefkästen: Keine Werbung bitte! Wolle, Sand und das Pferd vom Spielbrett, der weiße Bauer und die schwarze Königin werden widerwillig ausgespuckt. Hinein darf nur, was essbar ist, dann heißt es: Aufessen! Schlucken! Hinunter damit! Der Mund wehrt sich nicht. Beißt er die Zähne zusammen, dann ist allenfalls die eigene Zungenspitze dazwischen oder ein Stück der eigenen Wange. Die Lippen schließen den Mund gegen alles, was nicht hinaus darf. Denn auch in umgekehrter Richtung stehen Schilder und Tafeln. Nicht schreien. Mit geschlossenem Mund kauen. Nicht vor Sieben singen. Weinen ohne diesen Ton. Keine verbotenen Wörter sagen. Darüber reden wir in unserer Familie nicht. Das bleibt unter uns. Vor allem nicht schreien. Szenario. Vor den Mund kommt ein Pflaster - den Verbandswechsel kann das Kind mit neun Jahren selbst erledigen. Nur bei der Ernährung müssen wir ihm helfen. Aber dazu kann das Pflaster bleiben, wo es ist. Den Schlauch für die Magensonde führen wir durch die Nase ein. Das Leben ist ein Zuckerschlecken. Die Wahrheit, bittere Ironie oder positive Affirmation? Nur die Lippen sind sichtbar. Hängt an ihnen ein Zuckerrest? Sie werden ganz schmal, indem sie sich aufeinanderpressen. Vielleicht kommt doch noch gleich die Zunge hervor, um den Zucker wegzuschlecken. Vielleicht aber verbietet sie es sich. Die Zähne sind gut versteckt. Im Kiefer sitzt der Zorn. Die Zunge bildet schon Worte, doch liegt sie immer noch am Gaumen oben an und Luft entweicht nicht. Der Mund, der nicht mehr Zucker schleckt, ist eine tickende Bombe. Wenn ich ihn jetzt öffne, macht er dann noch Sinn? Angst. Dass sich die Wörter unkontrolliert, mangelhaft artikuliert überschlagen, dass die Zähne sich wahllos in meiner Umgebung festbeißen, dass nichts genug ist, den nun offenen Schlund zu füllen, dass ich bodenlos bin, dass ich nichts in die Welt bringen kann, nichts, was taugt. Depression. Wenn er sich gar nicht mehr auftut, der Mund. Kein Schrei ist zu erwarten, die Tränen fließen nicht, und also auch kein Schluchzen zu erhoffen, das die dünne Lippenschranke auch nur zittern machen könnte. Die Süße kann niemanden mehr erreichen, die Verbindung nach innen fehlt.

Süße und Bitterkeit - es ist unvermeidbar, beides zu erfahren. Von Glück kann ich sprechen, alles in mir wiederzufinden. Es zuzulassen, die Bitterkeit zu schmecken, das Leid in mir zu spüren - die Verbindung zu halten. Die Süße, den verlorengeglaubten Geschmack, wiederzufinden.


"Mein Mund ist ein Grab für Hühner und Fliegen." Hester Maulfrosch zit. n. einer Eintagsfliege, die anonym bleiben möchte.

Montag, 17. Januar 2011

Freitag, 7. Januar 2011

Naturtagebuch Anhang Römisch Zwei

Tonaufnahmen


CD-Cover


Track 1:
Ein Reh auf der Flucht bellt.
Zuerst unsere Stimmen. Wir haben den Pferden Gutenacht gesagt.
Dann unsere Schritte. Der Untergrund ist weich, aber oben auf dem Fahrweg hört man die Tritte; Kiesel kratzen.
Jetzt kein Geräusch, ich habe das Reh im hohen Gras ausgemacht. Es sieht uns und hält so still, als könne es uns dadurch weismachen, es sei gar nicht da. Unsichtbar für viele Sekunden hintereinander. Wir werden es auch, bis ich wissen will, was als nächstes passieren wird.
Hört jemand den Schreck?
Das Reh wendet mit einem Satz und flieht mit weiten Sprüngen. Seine Geschwindigkeit vermag es fast, es nocheinmal vor meinen Augen zu verbergen. Später sehen wir es wieder.

Track 2:
Ein Hammer schlägt auf etwas ein, oder eine Axt. Groß muss das Werkzeug sein und schwer. In einer Stadt, wo allenthalben Straßen aufgerissen und Häuser entkernt werden, schenke ich dem keine Aufmerksamkeit mehr. So hätte ich beinahe den Schwarzspecht nicht gesehen.
Im Wald an einem Birkenstamm ohne Krone. Auf Augenhöhe. Wie er mit seinem Kopf kräftig zuschlägt und dann einfach auf die Rückseite des Stammes wandert, als er mich sieht. Wie er guckt, links und rechts hervorlugt, ob ich noch da bin.

Track 3:
Ich habe die Eisschollen gehört. Der Brückenpfeiler unter mir hält eine auf, die nächste stößt sich an der ersten, das Wasser treibt weitere heran. Auf der Spree ziehen sie durch die hässliche Stadt oder frieren, wenn es noch kälter wird, vor der Brücke fest. Oben, wo ich bin, machen Menschen und ihre Maschinen alle Geräusche. Selbst die Elektrizität, die großen Buchstaben auf dem Gebäude und die Fotomodelle auf der beweglichen Werbetafel hängen mir in den Ohren. Und nur, wenn ich lausche, höre ich von unten herauf aus einem anderen Raum, was die Eisschollen sagen, und dass es sie überhaupt gibt, dass sie auch da sind, in dem Wasser, das ich sonst nie höre, wenn ich die Brücke passiere.

Track 4:
Der Kuckucksruf geht dir sogleich ins Ohr. Er klingt, wie alle Welt dir Glauben macht, dass ein Kuckucksvogel klingen soll. Viele Male, gerade wieder! Du meinst, jetzt könne Schluss sein mit der Belehrung, du weißt ja wie ein Kuckuck klingt. Doch aus dem undurchschaubaren Gewirr von Ästen und Zweigen und Blättern ruft es wieder und wieder. Nach wem wohl? Kuckuck rufen Kinder aus ihrem Versteck, aber niemand springt unter dem Haselstrauch hervor und keiner winkt dir aus der Weide. Die kleine Terz abwärts noch einmal und wieder, und gut gesprochen, schnell weiter! Das schreckliche Tier!

Track 5:
Die Harvester macht einen Lärm!

Track 6:
Im Winter beglückender Lärm aus dem Efeu an der Hauswand. Ich sehe niemanden.

Track 7:
Ein fieses Schaben. Was die Tonaufnahme nicht zeigt, ist das Eichhorn mit der Nuss zwischen den Vorderpfoten.

Track 8:
Diesmal im Januar. Ich habe das Kuckuck wieder gehört. Ein zweites Mal, falls ich es beim ersten Mal nicht glauben wollte. Doch den Beweis, dass ich mir nichts einbilde, gibt mir erst das dritte Mal. Es bleibt das letzte vorerst. Es ist das kuck vom Kuckuck, das letzte kuck, nicht das erste. Vielleicht war's doch ein anderer Vogel, ein komischer zumal.

Track 9:
Der dicke Schnee schluckt jeden Ton. Nicht das Spechtklopfen über uns. Aber ich horche auf Kinderstimmen, Quietschen, sich Zurufen, irgendwelche Töne von ihnen. Wenn der Specht pausiert - was überlegt er da oben zwischendurch so lange? - höre ich den Schnee liegen. Ein Kindergarten im Wald ist eine feine Sache. Wenn ich mich auf der Suche nach ihm an den direkten Weg gehalten hätte. Plötzlich sieht alles gleich aus. Mein Handy nützt mir nichts, weil ich meine eigenen Koordinaten nicht kenne. Dem Kind die neu hinzugekommenen Spielregeln vom Suchen transparent machen, den Schlitten eine Viertelstunde Weges zurückziehen und einen neuen Weg ausprobieren mit einer frischen Spur, die unsere nicht sein kann. Schlittenkufen und Stiefelabdrücke etwa eine Schuhnummer größer als meine sprechen mir laut und aufmunternd zu. Dabei ist um mich alles so still wie vorher. Aber in mir tönt Triumph. Und ehe ich die Betriebsgeräusche des Waldkindergartens höre, sehe ich in der Ferne ein Schlittengespann wie das unsere, zu weit, um danach zu rufen, und kurz darauf die ersten Farbtupfer zwischen Bäumen.
Das wiederholte Anhören von Track 9 führt mir vor Ohren, wie laut es trotz allem in meinem Kopf ist. Stopptaste.

Track 10:
Erst vorstellen, wie die Weidenäste sich in den Himmel strecken, die jüngsten Ruten genießen ihren ersten Sommer, der Stamm hat vielleicht schon 50 Jahre gesehen. Erst sich unter den Baum setzen und über die Stille wundern. Es tut mir Leid, ich habe die Ringeltaube ohne Absicht verscheucht. Erst sich zurücklehnen und die gefurchte Rinde am Hinterkopf spüren.
Mit den Insekten allein zu sein. Den Stillen, die man nicht hört, wenn sie laufen.
Eine Mücke nähert sich dem rechten Ohr. Ist sie weg, sind Herz und Atem die stärksten Tongeber an diesem Ort. Bis eine Fliege unter das Baumzelt fliegt. Das Brummen ist ein Ohrenschmaus.
Dann rate ich dringend, leiser zu stellen. Die Aufnahme ist übersteuert. Unterm Baum allerdings darf man sich dem Lärm ruhig ausliefern. Vielleicht ist es zuerst noch unangenehm, als schwinge jemand eine Holzratsche über deinem Kopf, dieses "Kinderspielzeug" zum Krachmachen. Wenn du denkst, sie zetern und streiten - denn beides wurde schon über Elstern gesagt -, dann raubt es dir den Nerv und du willst am liebsten dazwischenfahren. Je mehr du dich aber hineinbegibst, wirst du vielleicht das Mystische darin empfinden. Der zweite Teil der Tonaufnahme ist gut ausgesteuert und kann wieder bei voller Lautstärke genossen werden.