Montag, 27. Oktober 2014

Aus dem Wald

Erst als ich aus dem Wald komme, bemerke ich meinen Verfolger. Sein Schatten fällt über mich. Bis kurz vor meine Füße - ich könnte noch aus seinem Bereich springen, doch eh ich es tu, eh ich mich überhaupt zu irgendetwas anderem entschließe, als einfach nur stur aus dem Wald zu gehen, wird der Schatten größer, fließt er länger und breiter über den Weg vor meinen Füßen und zu meinen Seiten. Es ist der Schatten des Waldes, aus dem ich komme, denke ich und denke mir nichts dabei. Obwohl das Licht von vorn, ihn hinter mich werfen müsste, fängt er mich. Mein eigener Schatten gehorcht den Gesetzen von Schatten und Licht. Das weiß ich, weil ich am Schattenriss sehen kann, dass das vor mir nicht ich bin. Und weil der Schatten überall ist. Ich laufe im Schatten eines Anderen. Meinen eigenen Schatten hinter mir schluckt der Wald. Ganz lang ist mein eigener Schatten, er weist wie der große Zeiger einer Uhr in den Wald zurück. Jener andere Schatten beginnt nahe meinen Schultern. Ich blicke mich nicht unnötig um, denn ich weiß,ass ich meinen Verfolger nicht erkennen werde, weil der Wald zu dunkel ist. Das Funzellicht der Laternen reicht kaum bis zu den allerersten Bäumen.
Wieso ich laufe statt wegzulaufen, das weiß ich nicht.
Als ich vor meinem Hauseingang die Treppen erreiche, ist er noch da.
Im Haus selbst ist es zu dunkel, um die verschiedenen Schatten voneinander unterscheiden zu können. Ich steige mehrere Stufen, den richtigen Schlüssel für die Wohnungstür und das Schlüsselloch finde ich blind, die Tür geht auf, aus dem Flur fällt Licht, also sehe ich. Und ich sehe, es ist nur noch eine Pfütze von Schatten um meine Füße. Mich gruselt es erst am anderen Tag.
Da nämlich laufe ich denselben Weg, den ich gestern gekommen bin bei Tageslicht zurück, ich suche den Sumpf wieder auf. Und blicke in das Wasser, das dort in Pfützen steht wie in tiefe Löcher, in denen sich die Welt in wunderbarer Weise viel schöner als in Wirklichkeit wiederholt. Erlenblätter leuchten gelb, darunter das Himmelweit im schwarzen Morast. Es schauert mich, dort einzutauchen, und diesmal laufe ich weg, den Weg, den ich gekommen bin, ganz schnell aus dem Wald.

Lektion 1

Eines Tages überrumpelte mich meine Klassenlehrerin, indem sie sich als Pionier_ - wie soll ich sagen - Pionieranführerin meiner Klasse outete. Ab da hielt sie frühmorgens die Hand zum Zeichen an die Stirn, sagte den Befehl  - ein Befehl wie eine Frage, und forderte mich und alle anderen Kinder heraus, die einzig richtige Antwort zu schmettern. Dazu legte ich ich die Hand mit der Daumenkante an meine Stirn und alle taten es gleich, ich tat es so wie alle.

Ein Spiel, ein Wortspiel, ein Soldatenspiel. Nur war es gar kein Spiel. Der Kontext sollte sich mit jedem Tag mehr und mehr füllen. Abgerissene Sätze, Befehl und Antwort zwar, aber. Zu was würde ich bereit sein, wenn es soweit wäre?

Ich hatte einfach nur Glück.

Heute gibt es immernoch Erstklässler und Klassenlehrerinnen und Schultage, die mit der ersten Stunde beginnen. Aber es ist nicht mehr üblich, dass die Lehrerin ihre Kinder zu Pionieren macht. Es ist nicht üblich, deshalb macht es wohl keiner mehr.

Vieles wurde von einem auf den anderen Tag unüblich.
Keine Appelle mehr von heute auf morgen. Der letzte Fahnenappell, der noch stattgefunden hatte, wurde einfach vergessen. Darüber gab es keine Worte zu verlieren.
Und dennoch wäre es schön gewesen.
Wenn an diesem anderen Tag die Schuldirektorin statt keines Appells die erste Versammlung für Schüler und Lehrpersonal einberufen hätte. Um sich zu entschuldigen. Um alle Kinder um Verzeihung zu bitten.

Es ist lediglich nicht mehr üblich, Pioniergruß und so Sachen, und deshalb wohl macht es keiner mehr. Sonst wäre es nicht zu verstehen, dass es an jenem anderen Tag keine Entschuldigung gab.