Samstag, 22. August 2009

Kindheit entdeckt

Kindheit entdeckt (I) - eingerichtet (II) - umsonst? (III) Dreiteilige Artikelserie zum Thema Kindheit

Die Kindheit eines Menschen dauert und dauert. Zeit, ihn in die Schule zu schicken.
Schule. Warum?
Ich kenne es nur so.

Zur Zeit der Romantik und der romantischen Sicht auf das Kind, heißt es, habe man die Kindheit entdeckt; Kindheit sei nicht mehr nur ein Durchgangsstadium zum Erwachsensein, sondern ein Lebensabschnitt mit Eigenwert. Die Kinderbildnisse eines Philipp Otto Runge, bspw. das Bildnis Otto Sigismund im Klappstuhl (1805) und Die Hülsenbeckschen Kinder (1805), zeigen den neuen Blick. Der Kunsthistoriker Jens Christian Jensen urteilt: "Das Bildnis Otto Sigismund im Klappstuhl [...] erfasst das Kind mit einer Natürlichkeit, die es vorher nicht in der Kunst gegeben hat. Runge stelle "das Kind als eigenes, forderndes Lebewesen" dar, "[...] dem ein eigener Bereich gehört, der sich unabhängig in der Welt der Erwachsenen behauptet [...]". (Jensen, 1977, S.201f)
Die Hülsenbeckschen Kinder umgibt eine eigene Welt. Das jüngste Kind umklammert ein Blatt der Sonnenblume, es ist im Karren sitzend der Erde und den Blumen, sprich: seinem natürlichen Ursprung, ganz nah. Im Hintergrund reihen sich Häuser zu einem Dorf, das aus einem Bastelbogen oder Bilderbuch für Kinder stammen könnte. Erst die tiefe Flucht am rechten Bildrand gemahnt an die Erwachsenenwelt. Sie liegt im Schatten. Die Flucht symbolisiert die Perspektive, auf die alles hinausläuft. Das Dreiergespann der Kinder bewegt sich darauf zu, das älteste Kind ist ihr am nächsten. Noch sind die Drei sonnenbeschienene Kinder, doch ist das Erwachsensein ihr unausweichliches Schicksal. Die Farben, mit denen der Maler Runge die Kinder ausstattet, sprechen indirekt von einem biblischen Motiv: "Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen." (Matthäus 18, 2-3) (1)

Doch die sogenannte Entdeckung der Kindheit, wage ich zu behaupten, ist eigentlich gar keine, sondern nur eine neue/gewandelte Zuschreibung an Menschen jüngeren Alters. Die noch nicht von der Natur Entfremdeten, die der Natur noch Verbundenen. Die im Naturzustand Befindlichen. Ausformuliert findet sich diese Idee bei Rousseau. Was rechtfertigt die Entgegensetzung von erwachsenem Mensch und Natur und die Verortung der Kinder in der Natur? Versteht weiße Pädagogik nicht gerade mit dieser Dichotomie ihre Übergriffe zu legitimieren? Gerade in Rousseaus Emile können wir ja nachlesen, wie sich der Zugriff/die Einwirkung auf das Kind unter der neuen (romantischen) Sicht verfeinern soll.

Die Sozialforscherin Astrid Albrecht-Heide schreibt davon, dass Kindheit, kaum dass sie entdeckt wurde, auch schon vereinnahmt worden ist. Sie durchleuchtet das Ideengebäude, auf dem weiße Erziehung basiert und worin die Zuschreibung "naturverbunden" nicht halb so viel Respekt gebietet wie das gelbe Schild mit der schwarzen Eule.(2) Naturnah ist der Wilde, der Naive, der Schwarze, Natur ist nicht das Kultivierte. Der Naturzustand, so sehr er gleichzeitig herbeigesehnt wird, ist doch das, was es zu überwinden gilt. Was im Naturzustand lebt, lebt so vor sich hin, ohne Verstand. Keine Moral verbietet, in diesen Naturzustand einzugreifen und etwas an dem so deklarierten zu verändern. Derjenige, der sich dem Gesellschaftszustand zuordnet, sieht sich mit höherem Wissen ausgestattet, das seinen Eingriff legitimiert. Natur ist Rohstoff, ein formbarer Klumpen. Die sogenannte Entdeckung der Kindheit hat den Gedanken, Kindheit sei nur ein Übergangsstadium in der Entwicklung eines Menschen, nicht wirklich aufgegeben.

Kindsein gilt als Anfang des Menschenlebens und das Erwachsensein als Reife. Die Erziehung soll das Kind zur Reife führen. Zum Beweis der Unreife am Anfang eines Menschenlebens wird gerne das Phänomen herangezogen, dass der Mensch als physiologische Frühgeburt auf die Welt kommt. Mit seiner Unreife wird die Erziehungsbedürftigkeit des Menschenkindes begründet. Die Unreife erscheint als ein zu beseitigendes Defizit. Die hohe Bildsamkeit des jungen Menschen als Aufruf zum Erziehen und Belehren?

Was haben die Erwachsenen mit der Kindheit gemacht?

Anmerkungen:
(1) Rot, die Farbe des Kleides des jüngsten Kindes, steht für die Nähe zum Göttlichen.
(2) Was ist Erziehung? über weiße Erziehungswissenschaft

Literatur:
Jens Christian Jensen (1977) Philipp Otto Runge. Leben und Werk. Köln

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