Mittwoch, 8. August 2018

Spielzeugmuseum

Das Spielzeugmuseum ist eine Oase. Es wird nicht gesprochen und wenn, dann leise, nicht gespielt, nicht gespuckt, auch Schlurfen verbietet sich - die Museumspantoffeln auf dem Marmorboden verführen zum Schlittern, dann heißt es:
F ü ß e  h e b e n . Mit einem Quartsprung von Füße nach unten zu heben, aber bitte nicht singen!

Pass auf auf deinen Tee! Dass du ihn nicht verschüttest.

Der Audioguide führt dich sicher durch die Ausstellung.

In der viele Waffen liegen.

Manches ist harmlos, auch wenn es nicht so aussieht.
Manches sieht harmlos aus.


Du hast deine Kleidung an der Garderobe gelassen, du hörst die Stimme deines virtuellen Führers, du trägst die Pantoffeln an den Füßen, das heißt, es gibt kein Zurück. Du hörst dein Handy aus der Jackentasche rufen? Umkehren ist keine Option. Wenn du immer auf der roten Linie läufst, darfst du deine Arme zu den Seiten ausstrecken und wirst merken, dass du mit deinen kleinen Händchen an deinen viel zu kurzen Ärmchen nichts anfassen kannst.

Auch sind die Museumsräume so gestaltet, dass dich nichts berührt, dass der Museumsbesucher nicht verführt wird, dass es ihn nicht ergreift. Das älteste Ausstellungsstück liegt sicher verwahrt unter Glas auf schwarzem Samt.

Das Spielzeug im Museum ist nicht zum Spielen da.

Einfacher Ball aus Stein. Sicher unter Glas.
Das Spielzeugmuseum beherbergt das Spielzeug, das immer nur andere Kinder haben
und es kann dich den Umgang mit diesem und anderem Spielzeug lehren, ohne dass Anfassen vonnöten ist.

Ein Teil davon ist ausgespielt. Ausgespielt ist der Fachbegriff für zuendegespielt, genugbespielt, uninteressant. Fachbegriffe erklärt dir der Audioguide.
Die ausgespielten Museumsstücke fesseln durch ihre Spielhistorie. Der Audioguide erzählt euch von dem Raub der schönen Barbie Helena auf Track 9. Viele Leute finden das spannend. Die Herkunft der Fingerabdrücke auf dem steinzeitlichen Ball von außerterestrischen Lebensformen gilt als gesichert. Spuren einer Kriminalgeschichte. Das Museum bewahrt sie.

Das Spielzeugmuseum versteht sich als Schutzraum in vielerlei Hinsicht. Auch Spielen gehört in einen gesicherten Bereich. Das Spielzeugmuseum leistet seinen Beitrag und schützt Spielzeug. Die wertvollsten Stücke unserer Dauerausstellung sind mitten im Spielgeschehen geborgen worden, noch bevor sie ihren Reiz durch Ausspielung verloren hatten oder der Überspielung erlagen.
Bei diesen Stücken verbietet sich das Weiterspielen von selbst.

Einige wenige Spielzeuge wurden uns gebracht. Es gibt Spielzeuge, die gehören aus dem Verkehr gezogen, weil man sich oder andere damit verletzen kann. Solche Spielzeuge wurden uns gebracht und hier im Schutz des Museums, gesichert in den Vitrinen, könnt Ihr euch all diese Dinge ansehen.
Das Spielzeugmuseum beherbergt das Spielzeug, das immer nur andere Kinder haben.

Ich bin nicht die Direktorin des Museums. Ich stehe nur hinter euch und passe auf, dass Ihr die rote Linie nicht verlasst. Ab und zu stoße ich einen Zischlaut aus, das darf euch aber nicht erschrecken. Auf einem Schild an meiner Brust steht Security, ich trage sogar eine Dienstmütze. Als Kind habe ich Polizist gespielt, jetzt ist es ein Job. Oft stöpsel ich mir selbst den Audioguide in die Ohren, um die Kinder nicht zu hören, die meine Zischlaute überhören. Mein Lieblingsort ist neben der Vitrine mit dem Bumerang.


ich habe Sehnsucht, mit einem Bumerang zu spielen

Der Geist formt sich am Schönen.

aktuell. Summerhill im Netz

Aktualisierung zu dem Artikel Summerhill im Netz

seit 1921. Das klingt nach Tradition. Den Bildband "Schüler in Summerhill" von Joshua Popenoe gibt es nur noch im Antiquariat. Aber Summerhill ist alles andere als eine Konservendose.

Neu im Netz ist die Arbeit von Marie-Therese Hattendorf, zu finden auf http://www.matheha.net/DemEd/ , dort dem Link "Bachelorarbeit" folgen und dann nocheinmal dem Link folgen, der den Begriff Bachelorarbeit im Namen trägt. Der Direktlink ist:
http://www.matheha.net/DemEd/Bachelorarbeit/Bachelorarbeit_754254_Hattendorf.pdf

Literatur:

Hattendorf, Marie-Therese (2017) Das Selbstverständnis Demokratischer Schulen der aktuellen Democratic-Education-Bewegung. Universität Potsdam.
zu finden auf www.matheha.net (Stand 08.08.2018)

Popenoe, Joshua (1971) Schüler in Summerhill. Hamburg.
Originalausgabe (1970) Inside Summerhill. New York.

Dienstag, 7. August 2018

Keine Angst vorm Justizkomitee

Vor ein paar Jahren habe ich mal getitelt: "Strafen in der Pädagogik Neills" und  zur "Rechtssprechung an Demokratischen Schulen" äußerst wenig Worte gefunden und stattdessen auf einen Artikel von Henning Graner in der Zeitschrift UNERZOGEN verwiesen. Weil mir das Gerichthalten suspekt war, weil ich aber nicht urteilen wollte, sondern weiter forschen. Das Forschen, das Beobachten, das habe ich nun lange getan und nichts von mir verlauten lassen. Als mich dann vorgestern jemand in seine Überlegungen einbezog, an einer Demokratischen Schule könne man auf ein Justizkomitee verzichten und solle sich darauf verlegen, Konflikte empathisch zu begleiten und Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg zu etablieren, hatte ich plötzlich ganz viel zu sagen.

Ein Rechtssystem wird assoziert mit einer Autorität, die Recht spricht. Es gilt, Schuld zu beweisen, zu widerlegen. Schuld und Strafe werden gegneinander abgewogen. Ein Urteil wird gefällt.
Schuld und Sühne.

Demokratische Schulen organisieren sich in verschiedener Weise. So  kann auch das Rechtssystem von Schule zu Schule verschieden sein. Ich möchte ein Beispiel für ein Rechtssystem an einer Demokratischen Schule in Berlin geben.

Zweimal im Schuljahr wählen alle Schüler und alle Mitarbeiter dieser Schule die Mitglieder für ein "Richterkomitee". Für das Richteramt können sich sowohl Schüler als auch Mitarbeiter bewerben.

Die gewählten Richter teilen unter sich die Arbeit des Schulgerichts auf. Das Gericht tagt an vier Tagen in der Schulwoche zu fest bestimmten Zeiten. An jedem der Tage arbeiten mindestens zwei Richter im Team, in der Regel ein Mitarbeiter und mindestens ein Schüler. Es gibt so viele gewählte Richter, dass an jedem Gerichtstag der Woche ein anderes Richterteam arbeiten kann. Einmal in der Woche kommen alle Richter zusammen, um miteinander zu sprechen. Sie legen auf dem Richtertreffen einander die bearbeiteten Fälle vor und bilden die zweite Instanz für Berufungsfälle.

Das Gericht verhandelt die bei ihm angemeldeten Fälle in erster Instanz. Ist jemand mit dem Ausgang einer Verhandlung nicht einverstanden, gelangt der Fall vor das Richtertreffen (erste Berufung). Dort wird erneut eine Lösung gesucht. Bei einer zweiten Berufung landet der Fall vor der Schulversammlung. Das heißt, er wird allen Schülern und Mitarbeitern in der wöchentlich stattfindenden Schulversammlung erörtert, alle Anwesenden können sich miteinander darüber austauschen, Lösungen vorschlagen und am Ende über die Vorschläge abstimmen.

In meinen Augen spricht viel für die Etablierung eines solchen Rechtssprechungssystems.

Im Konfliktfall wünschen sich die Beteiligten unvoreingenommene Hilfe, dazu Durchsetzungsvermögen, Unabhängigkeit der Helfer, die Wahrnehmung und eine Auseinandersetzung mit ihrer Sicht der Dinge. Das Rechtssystem verhilft dazu:

1. Es gibt klare Regeln, wie in einem Konfliktfall vorgegangen werden kann. Die Regeln sind für alle einsichtig, sie sind für alle gleich und verbindlich, Mitarbeiter und Schüler können sich daran halten. Die Regeln sind nicht unveränderbar, denn sie können vor der Schulversammlung im demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Das Procedere im Konfliktfall folgt den Regeln und unterliegt nicht der Willkür.

2. Die Schulgemeinschaft gibt sich nach Bedarf Regeln, modifiziert bestehende Regeln, schafft Regeln ab und beschließt neue. Über das Rechtssystem kann auf die Einhaltung der Regeln bestanden werden. Ebenso können aber auch Dinge zur Sprache gelangen, die bislang noch in keiner Regel berücksichtigt worden sind bzw. für die vorher noch keine Aufmerksamkeit da gewesen ist.

3. Mit dem Rechtssystem gibt es eine Instanz, die beurteilt, ob Regeln verletzt wurden. Diese Instanz ist derart geschaffen, dass sie weitgehend unvoreingenommen urteilen kann. Bzw. kann die Unvoreingenommenheit einer Instanzebene angezweifelt und der Rechtsstreit einer höheren Instanz vorgelegt werden.

4. Das Rechtssystem fördert eine gründliche Auseinandersetzung in Konfliktfällen. Die Beteiligten eines Konflikts sitzen sich als Gleichberechtigte gegenüber und können sprechen. Zeugen werden gehört. Das ermöglicht ein zur Sprache bringen, es ermöglicht Einsicht und ist Voraussetzung für die Ausbildung differenzierter Sichtweisen.

Selbstverständlich kann ein Streit sich auch ohne Gerichtsverhandlung beilegen lassen. Es gilt in der Schule, in die ich Einblick hatte, in jedem Fall als legitim, das Rechtssystem der Schule zu Hilfe zu nehmen, um eine Sache zu klären. Gericht zu halten, heißt also nicht, dass etwas ganz schwerwiegendes vorgefallen sein muss. Das Rechtssystem stellt eine Hilfe dar, die jeder nach eigenem Ermessen nutzen kann.
Das Gericht wird nicht abgehalten, um über jemanden moralisch zu urteilen, jemanden zu stigmatisieren oder ähnliches. Die Mitarbeiter tragen Verantwortung für ein Klima der Fairness in der Schule, für ein Klima, das jedem ermöglicht und jeden einlädt, sich frei zu äußern, und dafür, Anlaufpunkte denen zu bieten, die sich eher leise oder versteckt äußern.

Das Rechtssystem steht nicht für sich allein. Da gibt es die wöchentliche Schulversammlung, in der alle Schulmitglieder gleichermaßen stimmberechtigt sind. Es gibt die Möglichkeit, eine Notschulversammlung einzuberufen - jeder Schüler, jeder Mitarbeiter kann das veranlassen. Mitarbeiter können einmal im Jahr auf der MitarbeiterInnenwahl von den Schülern gewählt/bestätigt und abgewählt werden. Jeder Schüler, jede Schülerin kann sich aus den Mitarbeitern zwei Menschen seines/ihres Vertrauens aussuchen, die dann eine besondere Verantwortung als Begleiter, Berater und Ansprechpartner für den Schüler/die Schülerin tragen.

Das Rechtssystem wird von seinen Menschen getragen und es ist ein Mittel und kein Selbstzweck. Alles spricht dafür, dass Erwachsene ihre empathischen Fähigkeiten bilden und dass sie ihr Bewusstsein schärfen für ihre eigene Wortwahl und für ihre eigene Sprache. Vieles spricht dafür, ein System zu etablieren, das den Mitgliedern der Gemeinschaft hilft, ihre Rechte wahrzunehmen, das hilft, strittige Angelegenheiten miteinander zu klären und die Obliegenheit dafür nicht dem Zufall überlässt. Dem Zufall, welcher Erwachsene sich der Sache annimmt, in welcher Laune und so weiter. Die Lösung eines Konflikts wird in dem beschriebenen Rechssystem bei Bedarf auf die gesamte Schulgemeinschaft verteilt. Niemand kann sich ungebeten und unangezweifelt dazu erheben, Recht zu sprechen.