Dienstag, 7. August 2018

Keine Angst vorm Justizkomitee

Vor ein paar Jahren habe ich mal getitelt: "Strafen in der Pädagogik Neills" und  zur "Rechtssprechung an Demokratischen Schulen" äußerst wenig Worte gefunden und stattdessen auf einen Artikel von Henning Graner in der Zeitschrift UNERZOGEN verwiesen. Weil mir das Gerichthalten suspekt war, weil ich aber nicht urteilen wollte, sondern weiter forschen. Das Forschen, das Beobachten, das habe ich nun lange getan und nichts von mir verlauten lassen. Als mich dann vorgestern jemand in seine Überlegungen einbezog, an einer Demokratischen Schule könne man auf ein Justizkomitee verzichten und solle sich darauf verlegen, Konflikte empathisch zu begleiten und Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg zu etablieren, hatte ich plötzlich ganz viel zu sagen.

Ein Rechtssystem wird assoziert mit einer Autorität, die Recht spricht. Es gilt, Schuld zu beweisen, zu widerlegen. Schuld und Strafe werden gegneinander abgewogen. Ein Urteil wird gefällt.
Schuld und Sühne.

Demokratische Schulen organisieren sich in verschiedener Weise. So  kann auch das Rechtssystem von Schule zu Schule verschieden sein. Ich möchte ein Beispiel für ein Rechtssystem an einer Demokratischen Schule in Berlin geben.

Zweimal im Schuljahr wählen alle Schüler und alle Mitarbeiter dieser Schule die Mitglieder für ein "Richterkomitee". Für das Richteramt können sich sowohl Schüler als auch Mitarbeiter bewerben.

Die gewählten Richter teilen unter sich die Arbeit des Schulgerichts auf. Das Gericht tagt an vier Tagen in der Schulwoche zu fest bestimmten Zeiten. An jedem der Tage arbeiten mindestens zwei Richter im Team, in der Regel ein Mitarbeiter und mindestens ein Schüler. Es gibt so viele gewählte Richter, dass an jedem Gerichtstag der Woche ein anderes Richterteam arbeiten kann. Einmal in der Woche kommen alle Richter zusammen, um miteinander zu sprechen. Sie legen auf dem Richtertreffen einander die bearbeiteten Fälle vor und bilden die zweite Instanz für Berufungsfälle.

Das Gericht verhandelt die bei ihm angemeldeten Fälle in erster Instanz. Ist jemand mit dem Ausgang einer Verhandlung nicht einverstanden, gelangt der Fall vor das Richtertreffen (erste Berufung). Dort wird erneut eine Lösung gesucht. Bei einer zweiten Berufung landet der Fall vor der Schulversammlung. Das heißt, er wird allen Schülern und Mitarbeitern in der wöchentlich stattfindenden Schulversammlung erörtert, alle Anwesenden können sich miteinander darüber austauschen, Lösungen vorschlagen und am Ende über die Vorschläge abstimmen.

In meinen Augen spricht viel für die Etablierung eines solchen Rechtssprechungssystems.

Im Konfliktfall wünschen sich die Beteiligten unvoreingenommene Hilfe, dazu Durchsetzungsvermögen, Unabhängigkeit der Helfer, die Wahrnehmung und eine Auseinandersetzung mit ihrer Sicht der Dinge. Das Rechtssystem verhilft dazu:

1. Es gibt klare Regeln, wie in einem Konfliktfall vorgegangen werden kann. Die Regeln sind für alle einsichtig, sie sind für alle gleich und verbindlich, Mitarbeiter und Schüler können sich daran halten. Die Regeln sind nicht unveränderbar, denn sie können vor der Schulversammlung im demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Das Procedere im Konfliktfall folgt den Regeln und unterliegt nicht der Willkür.

2. Die Schulgemeinschaft gibt sich nach Bedarf Regeln, modifiziert bestehende Regeln, schafft Regeln ab und beschließt neue. Über das Rechtssystem kann auf die Einhaltung der Regeln bestanden werden. Ebenso können aber auch Dinge zur Sprache gelangen, die bislang noch in keiner Regel berücksichtigt worden sind bzw. für die vorher noch keine Aufmerksamkeit da gewesen ist.

3. Mit dem Rechtssystem gibt es eine Instanz, die beurteilt, ob Regeln verletzt wurden. Diese Instanz ist derart geschaffen, dass sie weitgehend unvoreingenommen urteilen kann. Bzw. kann die Unvoreingenommenheit einer Instanzebene angezweifelt und der Rechtsstreit einer höheren Instanz vorgelegt werden.

4. Das Rechtssystem fördert eine gründliche Auseinandersetzung in Konfliktfällen. Die Beteiligten eines Konflikts sitzen sich als Gleichberechtigte gegenüber und können sprechen. Zeugen werden gehört. Das ermöglicht ein zur Sprache bringen, es ermöglicht Einsicht und ist Voraussetzung für die Ausbildung differenzierter Sichtweisen.

Selbstverständlich kann ein Streit sich auch ohne Gerichtsverhandlung beilegen lassen. Es gilt in der Schule, in die ich Einblick hatte, in jedem Fall als legitim, das Rechtssystem der Schule zu Hilfe zu nehmen, um eine Sache zu klären. Gericht zu halten, heißt also nicht, dass etwas ganz schwerwiegendes vorgefallen sein muss. Das Rechtssystem stellt eine Hilfe dar, die jeder nach eigenem Ermessen nutzen kann.
Das Gericht wird nicht abgehalten, um über jemanden moralisch zu urteilen, jemanden zu stigmatisieren oder ähnliches. Die Mitarbeiter tragen Verantwortung für ein Klima der Fairness in der Schule, für ein Klima, das jedem ermöglicht und jeden einlädt, sich frei zu äußern, und dafür, Anlaufpunkte denen zu bieten, die sich eher leise oder versteckt äußern.

Das Rechtssystem steht nicht für sich allein. Da gibt es die wöchentliche Schulversammlung, in der alle Schulmitglieder gleichermaßen stimmberechtigt sind. Es gibt die Möglichkeit, eine Notschulversammlung einzuberufen - jeder Schüler, jeder Mitarbeiter kann das veranlassen. Mitarbeiter können einmal im Jahr auf der MitarbeiterInnenwahl von den Schülern gewählt/bestätigt und abgewählt werden. Jeder Schüler, jede Schülerin kann sich aus den Mitarbeitern zwei Menschen seines/ihres Vertrauens aussuchen, die dann eine besondere Verantwortung als Begleiter, Berater und Ansprechpartner für den Schüler/die Schülerin tragen.

Das Rechtssystem wird von seinen Menschen getragen und es ist ein Mittel und kein Selbstzweck. Alles spricht dafür, dass Erwachsene ihre empathischen Fähigkeiten bilden und dass sie ihr Bewusstsein schärfen für ihre eigene Wortwahl und für ihre eigene Sprache. Vieles spricht dafür, ein System zu etablieren, das den Mitgliedern der Gemeinschaft hilft, ihre Rechte wahrzunehmen, das hilft, strittige Angelegenheiten miteinander zu klären und die Obliegenheit dafür nicht dem Zufall überlässt. Dem Zufall, welcher Erwachsene sich der Sache annimmt, in welcher Laune und so weiter. Die Lösung eines Konflikts wird in dem beschriebenen Rechssystem bei Bedarf auf die gesamte Schulgemeinschaft verteilt. Niemand kann sich ungebeten und unangezweifelt dazu erheben, Recht zu sprechen.

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