Donnerstag, 30. September 2010

Pilzesehen

Ich esse Pilze nicht.
Ein Blogbeitrag mit sieben farbigen Abbildungen.





Der Wald riecht nach ihnen.
Dann sehe ich sie. Wie Fremde stehen sie um mich herum. In Terassen wachsen sie auf einem liegenden Stamm, auf dem wir doch immer balancieren! - das geht jetzt nicht mehr. Sie werden alle zu Matsch, wenn wir drüber laufen. Ihre Schirmchen und die nackigen Stiele ohne Hut.

Nackt sind sie alle bis auf Ausnahmen.1)
Nicht Holz, nicht Gras,

B e r ü h r e n
auf eigene G e f a h r.

 

Keine giftigen Schlangen, keine Skorpione - Pilze beißen nicht!
Außerirdischen Ursprungs? Dabei leben Pilze viel tiefer in der Erde als Menschen es gewöhnlich tun. Sie leben im selben Universum wie ich und trotzdem empfinde ich ihres als ein anderes als meines.

Berühren ist Eintauchen?

Im Pilzbuch heißt es, die Fruchtkörper wüchsen meist überirdisch. Überirdisch bedeutet da aber nicht mehr und nicht weniger als über dem Erdreich. Dabei ist noch im selben Satz die Rede von Drachen, Elfen, Nymphen, in Klammern Oreaden und Dryaden, Kobolden und so weiter und Brahmanen und Schamanen und dem Teufel.

Alice im Wunderland hat von einem Pilz abgebissen um sich zu verändern. Ihre Größe! Das hat sie immer schon gestört. Für Karnickellöcher war sie (eigentlich) zu groß und für Glastische im Wohnungsflur, auf denen Erwachsene verbotene Schlüssel ablegen, zu klein.
 
 

Rechts abbeißen oder lieber weiter links? Wachsen oder schrumpfen?
An welcher Stelle teilt sich ein Kreis in zwei Hälften? Wo ist die Symetrieachse, die eindeutig bestimmt, was rechte und was linke Hälfte ist?

Mit einem Fotoapparat wird Pilzesammeln völlig ungefährlich. Bei bester Gesundheit die giftigsten Pilze bestaunen - das ist auch der Reiz an Pilzbüchern.

Essbar, ungenießbar, giftig, tödlich giftig. Die ersten Fachbegriffe, die ich schon verstanden habe.
Im Pilzbuch gelange ich ins Reich der Mykophilen. Microfungi, Macrofungi. Begriffe, die klar machen, dass der Pilzkosmos nicht unbegreiflich ist. Zumindest lässt sich alles beobachten und in Worte fassen.

So sind Pilze Eukaryonten. Nicht Pflanze, nicht Tier, aber wie Tier und Pflanze mit echten Zellkernen. Weder Bakterium noch Urbakterium, die keinen echten Zellkern besitzen.
Pilze, heißt es im Buch, leben von organischem Material. Sie brauchen Kohlenhydrate, die sie im Gegensatz zu Pflanzen mangels Chlorophyll selber nicht herstellen können. Pilze siedeln deshalb in lebenden Bäumen, in abgestorbenen Bäumen, im Obst, im Darm und in Schmetterlingsraupen.

Die Raupen leben noch, wenn der Pilz sie befällt!

Paecilomyces farinosus.

Die Raupe verpuppt sich sogar noch, denn es heißt, der Pilz lebe auf Schmetterlingspuppen, wobei er schon hineingelangt sei, als die Raupe noch keine Puppe war. Über den Tod der verpuppten Raupe steht im Pilzbuch nichts. Vielleicht erst ganz hinten wieder auf den letzten Seiten oder vielleicht ist das in einem Pilzbuch überflüssig zu erwähnen?
 
Der Paecilomyces farinosus lässt Fruchtkörper aus der Schmetterlingspuppe sprießen, die sind einige Zentimeter lang, haben nur wenige Millimeter Durchmesser und ihre obere Hälfte ist von weißer pudriger Konidienmasse überzogen. Konidien sind eine Form von Sporen.

Ich habe das Pilzbuch satt und setze mich im Leben außerhalb auf einen Sonnenfleck im Wald neben einen Gelben Knollenblätterpilz, Variation Alba. Das ist völlig ungefährlich. Zumal wir uns nichts tun. Ungenießbar. Wer ist das nicht zuweilen. Das Buch fällt mir auf den Kopf! Dort finde ich nicht den Zugang, den ich zu den Pilzen suche.


Pilze sind schwer verdaulich. Vielleicht leben ja diejenigen, die Pilze genießen, wenigstens eine Zeitlang im Pilzuniversum. Nacktschnecken und Würmer inbegriffen. Allerdings fressen sie dieses wundersame Universum auf. Sie verleiben es sich ein. Vielleicht kann man es sehen, sofern man imstande ist, in die vier Augen einer Schnecke zu schauen.

1) Der Wollige Scheidling hat ein Fell. Insofern ist er nicht nackt.

3 Kommentare:

mkh hat gesagt…

Spannend! Ein ungewöhnliches Experiment über die Wahrnehmung der Pilze, Fungis geheimes Leben, Grenzwelten der Mykologie... Erinnert mich plötzlich an H. G. Wells' War of the Worlds. Nur dass es bei ihm Marsianer sind, nicht Myzelien, die sich unsere Welt einverleiben wollen. Im Pilzkreis zu sitzen, im gegenseitigen Respekt, und deren unterirdischem Pilzwurzelwerk zu lauschen, mag uns manches über ihr geheimes Leben lehren? Lautlos gehen sie seltsame Pakte ein; vermutlich wird das Wachstum bei 90 % aller Pflanzen von Pilzen gefördert. Und noch ein Gedanke: Ameisen und Pilze haben etwas gemeinsam. Beide unterwandern unsere Welt. Leise. Unmerkiliuch. "Die größte gefundene Ameisenkolonie befindet sich in Südeuropa und wird von der Argentinischen Ameise Linepithema humile gebildet. Sie erstreckt sich entlang der Italienischen Riviera bis in den Nordwesten Spaniens über eine Länge von 5760 Kilometer. Die Kolonie besteht aus mehreren Millionen Nestern mit mehreren Milliarden Individuen. Forschungen ergaben, dass Ameisen dieser und anderer größerer Kolonien der Erde an der Küste Kaliforniens und der Westküste Japans sich gegenseitig nicht bekämpfen. Daher wird angenommen, dass sich das gesamte Ausbreitungsgebiet der Kolonie über mehrere Kontinente erstreckt, verbreitet durch den Menschen. Somit würde diese Kolonie die größte bekannte Ausbreitung dieser Struktur einer Insektenart darstellen" Manche Ameisenarten züchten Pilze.

Nur ein paar unterirdisch wirksame Gedanken - zu deinem wieder mal sehr schönen! Text.

sumpffuss hat gesagt…

Krass!!!

mkh hat gesagt…

Krass ist aber auch, dass ich in der Eile völlig vergessen habe, die Quelle für den Textabsatz in Zitate-Zeichen ("...") zu nennen. Diesen in "..." gesetzten Absatz habe ich nicht selbst verfasst!!! Sondern ihn aus wikipedia (zum Thema Ameisen...) herausgezogen. (So was passiert mir normalerweise niemalst, dass ich fremd-zitiere und dann die Quelle nicht hinzufüge. Da bin ich eigentlich sehr penibel!! Verzeihung.)