Donnerstag, 5. März 2009

Trauriges Buch

Liebe Toni Morrison mit Slade Morrison,

eure Geschichte The Big Box hat mich traurig gemacht. Und dabei ist sie doch das Leben! Deshalb.

Drei wahre Geschichten. Drei wirkliche Kinder und was die Erwachsenen hier und jetzt mit ihnen machen. Ich lese es meinen Kindern vor und sie erkennen darin wieder, wie mit ihnen und mit "ihresgleichen" umgegangen worden ist. Sie wissen, dass es Orte gibt, wo Kindern solches, was im Buch beschrieben, täglich widerfährt. Eine Schule, die täglich ihren Stempel setzt. Ein Kindergarten, der Benehmen verlangt. Nicht zuletzt Eltern, die ausdrücken: Du bist nicht richtig, Kind. Du musst dich ändern.

Was ist die Big Box? Eine Erziehungsanstalt? Nicht die Erziehungsanstalt im üblichen Sinne. Die Kinder werden eingesperrt in einer Welt mit allem Komfort. Was fehlt sind Himmel und Möwengeschrei. Drei Schlösser trennen die Kinder von der Welt, wo Biber, Baum und Vögel leben. Solange, bis die Kinder nach den Regeln der Erwachsenen funktionieren, wird ihnen die Fähigkeit abgesprochen, über sich selbst zu bestimmen. Die Erwachsenen maßen sich an, über die Kinder zu bestimmen.
Die Big Box, die Kinderkiste in der deutschen Übersetzung des Buches (übersetzt von Thomas Piltz), ist nicht mal eine besonders hochgeschraubte und deswegen seltene Form der Anmaßung. Sie ist überall da, wo Kinder emotional vernachlässigt werden. Wo das soziale Bedürfniss junger Menschen, was zugleich Kompetenz ist, verkannt wird. Wo Menschen andere Menschen als Objekte wahrnehmen, die "sozialisiert" werden müssen, angepasst und eingefügt, zurechtgestutzt; wer nicht der Norm entspricht, wird genormt. Das Erziehen vernachlässigt emotional. Erziehen geht gegen die Gefühle mindestens derer, die erzogen werden.

Ebenso wie die Frage nach der Big Box hat mich das Ende des Buches beschäftigt. Wie kommen die Kinder aus der Kiste wieder raus? Sind sie dann genauso wie die Erwachsenen und beschränken sich freiwillig, maßregeln sie sich mit Überzeugung und erinnern sie sich nicht mehr an die Zeit in der Kiste? Das Buch zeigt keinen Weg, sich aus einer Big Box zu befreien. Es zeigt nur den Weg hinein und das traurige Leben im Innern. Aber vielleicht ist das Buch selbst der Weg. Als Kinderbuch mit wunderbar ausdrucksreichen Bildern (gemalt von Giselle Potter) gelangt das Buch wie von selbst in Erwachsenenhände. Die Erwachsenen lesen es den Kindern vor und bis sie merken, was sie da angefangen haben, werden sie schon ungeduldig aufgefordert, nur ja weiterzulesen, nicht aufzuhören. Und die Kinder fühlen sich den drei Kindern im Buch nahe und die Erwachsenen können nicht umhin, sich selbst im Buch auf der einen wie auf der anderen Seite wiederzufinden. Das Buch gibt Kindern Worte und Bilder, und Erwachsenen auch.
Dafür danke ich euch, Slade, Toni und Giselle!

Toni Morrison mit Slade Morrison (2000) Die Kinderkiste. Reinbeck bei Hamburg

ein anderes Buch von S. und T. Morrison vorgestellt unter Böses Buch

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich hab die Die Kinderkiste (auf deutsch) gelesen und vorgelesen. Auch ich finde die Botschaft wichtig und nötig. Allerdings - ich weiß nicht, ob's vielleicht z.T. an der Übersetzung liegt - hat mich ein Eindruck, den ich beim Lesen bekam, gestört, nämlich die sich mir förmlich von Anfang an aufdrängende gute Absicht. Aufdrängende deshalb, weil sie bei mir offene Türen eben einrennt. Als Provokation funktioniert die Geschichte dann eben auch nicht mehr. Und als Geschichte fehlt mir der Geschichte dann das Überraschungsmoment.

Anonym hat gesagt…

Was mich an dem Buch "Die Kinderkiste" gefreut hat, war, dass in dem Buch People of Color/Schwarze und nicht, wie ich es gewohnt bin, nur weiße Personen abgebildet sind. Ich habe beispielsweise ein anderes Kinder-Bilder-Buch geschenkt bekommen, wo es Bilder zum Thema: "Auf der Baustelle", "Straßenfest", "Im Freibad" usw. gab. Die abgebildeten Personen waren alle weiß. In "Die Kinderkiste" hingegen gibt es Schwarze Lehrer und Nachbarn.Erst vor kurzem wurde mir bewusst, dass ich Deutsche als weiß imaginiert habe. In der deutschen Gesellschaft, wo im öffentlichen Raum auf Werbeplakate meist nur weiße als Identifikationspersonen abgebildet sind und People of Color meist in Zusammenhang mit Entwicklungshilfe abgebildet werden (als Hilfebedürftige), habe ich mich sehr über das Buch von Toni Morrison mit Slade Morrison gefreut. Ich glaube meine (rassistisch geprägte) Überzeugung Deutsche seien weiß, hängt neben anderem auch damit zusammen, dass weiße in deutschen Medien in fast allen Kontexten dargestellt werden und People of Color nur in ganz bestimmten Kontexten. Diese Überrepräsentation von weißen in Zeitschriften und Büchern ist für weiße (mich eingeschlossen) ein Privileg. Auf der Spur weißer Privilegien in "White Privilege. Unpacking the Invisible Knapsack" zählt Peggy McIntosh als weißes Privileg auf: "I can turn on the television or open the front page of the paper and see people of my race widely represented". Dies war mir nie als ein Privileg bewusst.Ich denke aber, dass dies nicht nur ein Privileg ist, sondern, dass dadurch auch meine Wahrnehmung von weißen und People of Color geprägt wurde, auch durch die Kontexte in denen People of Color und weiße jeweils abgebildet werden.Ich habe mit meiner Tochter große Freude an dem Buch gehabt. Durch die vielen Wiederholungen konnte sie es Zeilenweise (also zum Teil) auswendig. Die Wiederholungen zeigen aber auch, dass es eine sich immer wiederholende Struktur gibt, wie Erwachsene Kindern ihre Freiheit rauben und dass es kein Einzelschicksal ist. Die Frage nach dem Ausgang aus der Kiste und die Gedanken dazu haben mich in der rezension sehr bewegt. Denn auch wenn ich jetzt selbst Elternteil bin, habe ich Kistenerfahrung ohne mir diese bewusst zu machen und mich daran erinnern zu wollen.