Donnerstag, 28. Januar 2010

Deschooling Notizen 003

Mein ältestes Kind ist mit elf Jahren in der Ostsee die ersten Male frei (ohne Schwimmhilfe) geschwommen. Vielleicht hätte ich nie von so vielen “Spätschwimmern” erfahren, wenn nicht dieses Kind gewesen wäre. Plötzlich hörte ich von verschiedenen Eltern und Großeltern Geschichten über ähnliche Schwimmlernerfahrungen mit Kindern. Der zeitliche Rahmen, in dem von einem Kind erwartet wird, dass es Schwimmen ohne Hilfen gelernt hat, ist meinem Gefühl nach so bis sieben gesteckt, oder irre ich da? Ich hatte früher den Eindruck. Es ist für mich eine schöne Erfahrung zu sehen, dass ein Kind (nicht nur mein eigenes und nicht nur das Schwimmen betreffend) Dinge lernt jenseits des zeitlichen Erwartungsrahmens, Dinge, über die bereits Glaubenssätze existieren, dass ein Kind sie nie mehr lernen würde, wenn es sie bis zu einem bestimmten Alter nicht gelernt hätte.
Auch als Erwachsene lerne ich solche Sachen, die ich angeblich als kleines Hänschen hätte lernen müssen, um sie jemals zu können. Das ist ein wahnsinnig gutes Gefühl hinterher. Angefangen hat es damit, dass ich mir überhaupt zugetraut habe, etwas zu lernen, was ich unbedingt lernen wollte, was mir aber lange unerreichbar schien, wenn ich mein Alter in Betracht zog und dann auch noch den Vergleich zu anderen.

Montag, 18. Januar 2010

Deschooling Notizen 002

Was fühlst du, wenn du an einer dieser Anstalten vorbeigehst, in denen die jungen Menschen Schüler genannt werden und Schülerinnen? Was denkst du dir, wenn du die Taschen auf den Rücken der Kinder als Schulranzen wiedererkennst? In welchem Kontinuum lebst du? In welchem willst du leben?

Dienstag, 24. November 2009

Zwiespalt

***
Du hattest den Kopf einer Kuh, erinnerst du dich? Mit Eselsohren, so lang, keiner würde die übersehen. Du hocktest traurig auf der nackten Erde. Nackter noch warst du in deiner Haut. Der Kopf war keine Verkleidung. Er saß fest auf deinem Hals. Das wenige Fell, das dich bedeckte, war das in deinem Gesicht. Wie gern hätte ich dich erlöst, und du hättest dich als eines Königs Sohn entpuppt. Oder als der Sohn eines Gottes, der nur des Nachts eine vollkommen menschliche Gestalt annimmt, seiner Liebsten zu Liebe. Die Liebste ist kaum göttlicher als ich. Sie würde dir abwechselnd zu Füßen liegen oder dein Fellgesicht lecken. So wollte sie alle Tage zubringen und nachts bei dir liegen, bei dir in deiner perfekten Gestalt. Aber, Liebster, wir wissen, dass du nicht gottgleich bist und keines Königs Sohn. Von den Füßen bis zum Hals bist du schön anzusehen für mich. Doch solltest du dich der Schicklichkeit halber bedecken. Dein Kopf ist der eines Rindes mit langen Ohren. Sie verraten deine Gefühle. Sie erinnern mich, dass der Hohn der Leute über mich kommen wird, wenn ich bei dir bleibe.
Erinnerst du dich?
Ich sollte mich entscheiden. Das Wohlwollen der Leute wie ihre Gleichgültigkeit oder ihr Hohn und du.
Zum Glück hast du mich aus meinem Alptraum zurückgeholt. Du wusstest, was ich träume, denn du hattest den gleichen Traum. Es hatte ausgesehen, als wollten gleich die Tränen aus deinen Kuhaugen rollen. Aber du wecktest mich. Dich hatte der Weckton des Funkweckers aus den Träumen gerissen. Wir konnten aufstehen wie immer, uns ankleiden für den Tag und unseren gewohnten Dingen nachgehen. War das nicht ein Glück?

Für die Überschrift und wichtige Anregungen danke ich Lisa.
Das Bild Titania erwacht von Johann Heinrich Füssli hat mich zu diesem Text inspiriert. Der Text hat indes nichts damit zu tun, was der Maler auf seinem Bild darstellen wollte.

Sonntag, 27. September 2009

Samstag, 22. August 2009

Kindheit entdeckt

Kindheit entdeckt (I) - eingerichtet (II) - umsonst? (III) Dreiteilige Artikelserie zum Thema Kindheit

Die Kindheit eines Menschen dauert und dauert. Zeit, ihn in die Schule zu schicken.
Schule. Warum?
Ich kenne es nur so.

Zur Zeit der Romantik und der romantischen Sicht auf das Kind, heißt es, habe man die Kindheit entdeckt; Kindheit sei nicht mehr nur ein Durchgangsstadium zum Erwachsensein, sondern ein Lebensabschnitt mit Eigenwert. Die Kinderbildnisse eines Philipp Otto Runge, bspw. das Bildnis Otto Sigismund im Klappstuhl (1805) und Die Hülsenbeckschen Kinder (1805), zeigen den neuen Blick. Der Kunsthistoriker Jens Christian Jensen urteilt: "Das Bildnis Otto Sigismund im Klappstuhl [...] erfasst das Kind mit einer Natürlichkeit, die es vorher nicht in der Kunst gegeben hat. Runge stelle "das Kind als eigenes, forderndes Lebewesen" dar, "[...] dem ein eigener Bereich gehört, der sich unabhängig in der Welt der Erwachsenen behauptet [...]". (Jensen, 1977, S.201f)
Die Hülsenbeckschen Kinder umgibt eine eigene Welt. Das jüngste Kind umklammert ein Blatt der Sonnenblume, es ist im Karren sitzend der Erde und den Blumen, sprich: seinem natürlichen Ursprung, ganz nah. Im Hintergrund reihen sich Häuser zu einem Dorf, das aus einem Bastelbogen oder Bilderbuch für Kinder stammen könnte. Erst die tiefe Flucht am rechten Bildrand gemahnt an die Erwachsenenwelt. Sie liegt im Schatten. Die Flucht symbolisiert die Perspektive, auf die alles hinausläuft. Das Dreiergespann der Kinder bewegt sich darauf zu, das älteste Kind ist ihr am nächsten. Noch sind die Drei sonnenbeschienene Kinder, doch ist das Erwachsensein ihr unausweichliches Schicksal. Die Farben, mit denen der Maler Runge die Kinder ausstattet, sprechen indirekt von einem biblischen Motiv: "Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen." (Matthäus 18, 2-3) (1)

Doch die sogenannte Entdeckung der Kindheit, wage ich zu behaupten, ist eigentlich gar keine, sondern nur eine neue/gewandelte Zuschreibung an Menschen jüngeren Alters. Die noch nicht von der Natur Entfremdeten, die der Natur noch Verbundenen. Die im Naturzustand Befindlichen. Ausformuliert findet sich diese Idee bei Rousseau. Was rechtfertigt die Entgegensetzung von erwachsenem Mensch und Natur und die Verortung der Kinder in der Natur? Versteht weiße Pädagogik nicht gerade mit dieser Dichotomie ihre Übergriffe zu legitimieren? Gerade in Rousseaus Emile können wir ja nachlesen, wie sich der Zugriff/die Einwirkung auf das Kind unter der neuen (romantischen) Sicht verfeinern soll.

Die Sozialforscherin Astrid Albrecht-Heide schreibt davon, dass Kindheit, kaum dass sie entdeckt wurde, auch schon vereinnahmt worden ist. Sie durchleuchtet das Ideengebäude, auf dem weiße Erziehung basiert und worin die Zuschreibung "naturverbunden" nicht halb so viel Respekt gebietet wie das gelbe Schild mit der schwarzen Eule.(2) Naturnah ist der Wilde, der Naive, der Schwarze, Natur ist nicht das Kultivierte. Der Naturzustand, so sehr er gleichzeitig herbeigesehnt wird, ist doch das, was es zu überwinden gilt. Was im Naturzustand lebt, lebt so vor sich hin, ohne Verstand. Keine Moral verbietet, in diesen Naturzustand einzugreifen und etwas an dem so deklarierten zu verändern. Derjenige, der sich dem Gesellschaftszustand zuordnet, sieht sich mit höherem Wissen ausgestattet, das seinen Eingriff legitimiert. Natur ist Rohstoff, ein formbarer Klumpen. Die sogenannte Entdeckung der Kindheit hat den Gedanken, Kindheit sei nur ein Übergangsstadium in der Entwicklung eines Menschen, nicht wirklich aufgegeben.

Kindsein gilt als Anfang des Menschenlebens und das Erwachsensein als Reife. Die Erziehung soll das Kind zur Reife führen. Zum Beweis der Unreife am Anfang eines Menschenlebens wird gerne das Phänomen herangezogen, dass der Mensch als physiologische Frühgeburt auf die Welt kommt. Mit seiner Unreife wird die Erziehungsbedürftigkeit des Menschenkindes begründet. Die Unreife erscheint als ein zu beseitigendes Defizit. Die hohe Bildsamkeit des jungen Menschen als Aufruf zum Erziehen und Belehren?

Was haben die Erwachsenen mit der Kindheit gemacht?

Anmerkungen:
(1) Rot, die Farbe des Kleides des jüngsten Kindes, steht für die Nähe zum Göttlichen.
(2) Was ist Erziehung? über weiße Erziehungswissenschaft

Literatur:
Jens Christian Jensen (1977) Philipp Otto Runge. Leben und Werk. Köln

Donnerstag, 23. Juli 2009

Learn Nothing Day

Schulen machen viel her, um die Leute glauben zu machen, da, in diesem viereckigen Schulgebäude passiere etwas, werde Wissen gemehrt, werden Menschen gebildet. Sie beziehen große Gebäude und geben sich die Namen berühmter Menschen. Ausgeklügelte Didaktiken, aufwendig zusammengeschusterte Lehrbücher und Arbeitsmaterial, das sich vielfältig gibt, gaukeln Schülernähe (Menschennähe?) vor, denn es gibt ja mehrere Wege des Lernens. Auch die Schule hat inzwischen von visuellen, haptischen und auditiven Typen gehört und kommt ihren Schützlingen entgegen. Nur muss sie darauf bestehen, dass jeglicher Weg durch ihre Pforten führt. Bildung setzt Lernen voraus und Lernen, wird den Menschen hierzulande weisgemacht, ist ein Vorgang, der bei der heutigen Fülle und Komplexität des gesammelten Wissens der Menschheit nicht in freier Natur stattfinden kann, nicht dem Lauf der Dinge überlassen werden sollte, ein Vorgang, der des Antriebs durch andere bedarf, und ein Vorgang, der unweigerlich an Unterrichtung geknüpft ist. Und noch während die Schule die Komplexität und Umfassenheit der Allgemeinbildung beteuert, zwängt sie Lernen und das, was wir darunter verstehen sollen, in eine Dimension. Lernen ist das, was in Schulen geschieht. Lernen ist das, was für Schulen geschieht. Gelernt wird auf ein Ziel hin. In der Regel handelt es sich um Auswendiglernen oder um das Erlernen einzelner abprüfbarer Fähigkeiten.

Sandra Dodd hat den Learn Nothing Day ins Leben gerufen. Den Tag, an dem alle, die ihn feiern, nichts lernen brauchen, sollen, dürfen? Na wenigstens können sie es ja mal versuchen. In diesem Jahr am 24. Juli. Es ist ein Freitag, der zumindest in Brandenburg sowieso in den Ferien liegt.

People learn by playing, thinking and amazing themselves. They learn while they're laughing at something surprising, and they learn while they're wondering "What the heck is this!?" (Sandra Dodd)

Leute lernen, indem sie spielen, denken und sich begeistern. Sie lernen, während sie über etwas Überraschendes lachen, und sie lernen, während sie sich grad wundern, "Was zum Teufel ist das!?"
(meine Übersetzung)

Der Learn Nothing Day ist im Grunde der Feiertag der Unschoolbewegung. Weil man nicht nichts lernen kann und das kann dieser Tag zeigen. Versuche mal, nichts zu lernen. Nichts!

Ich begreife Lernen als ein dem Menschen tief verwurzeltes Bedürfnis und als einen immerwährenden Prozess. Verschultes Lernen macht den Eindruck, der Prozess hätte ein festgesetztes Ende, nähmlich dann, wenn wir uns richtig verhalten, wenn wir nämlich nicht mehr mit h schreiben, wenn wir Schwimmen können und wissen, wie lang der Nil ist. Ein Blick auf Kinder, die (noch) nicht zur Schule gehen zeigt ein ganz anderes Lernen. Beobachtet werden kann nur ein Geschehen, meist das Spiel, und als Ergebnisse können die Forscher eigentlich nur Dinge notieren, die sie selber schon wissen und erwarten. Kann laufen, sieht einen Zusammenhang zwischen Schalter und Deckenbeleuchtung, kennt den Vornamen von Oma. Aber wenn ein Kind uns sagt, es wisse, was das Meer ist, dann weiß ich noch lange nicht, was es selbst vom Meer weiß. Wie ist es dem Meer zum ersten Mal begegnet? Hat es das Wasser bisher nur vom Ufer gesehen oder war es mal so weit auf dem Wasser, dass ringsum kein Land mehr war? Welches Meer hat es gesehen, welchen Strand, ist es geschwommen, hat es Fisch gegessen und Wasser geschluckt? Es gäbe der Fragen noch viel mehr und auch Fragen, die ich gar nicht kenne. Lernen ist einfach viel zu komplex, als dass man es in eine Schule stecken kann. Darum habe ich in der Schule auch ganz andere Dinge gelernt, die in keinster Weise zu dem gehören, was Schule vermitteln will.
Zurück zum Blick auf das Kind.
Spiel ist eine, wenn nicht sogar die zentrale Form des Lernens. Jedes Spiel enthält mindestens eine unbekannte Variable. Eine Variable, die dem Zufall überlassen ist - im Rollenspiel der Willkür der Spieler, im Regelspiel dem Würfel oder dem Geschick der Mitspielerinnen. Mindestens das Ergebnis bleibt offen oder mein Eindruck. Wenn ich Schlitten fahre immer wieder auf der selben Bahn, so nenne ich das auch Spiel, und hier ist es der Nervenkitzel, das Auskosten eines Gefühls, von dem ich mich überraschen lasse. Wenn mich nichts mehr überraschen kann, suche ich mir ein neues Vergnügen, baue den Schlitten um, ändere meine Bahn, wechsle den Schlitten gegen Skier aus. Im Spiel gibt es selten wirkliche Fehler (Bsp. Skiunfall). Dafür aber Möglichkeiten. Ich probiere Möglichkeiten aus, ich probiere mich in Möglichkeiten aus. Ich such die Möglichkeiten. Aus diesem Ausprobieren und nicht Festgelegtsein erwächst Anpassungsfähigkeit. Anpassung ist eine Strategie zum Überleben. Und die Offenheit, die dem Spiel wie dem Lernen eigen ist, lässt neue Möglichkeiten zu, vorher unbekannte Problemlösungen und Veränderung. Menschen überleben in ihrer Umwelt nicht nur, indem sie sich anpassen. Sie verändern auch und machen sich die Dinge passend (Bsp. Hausbau).
Es scheint also wichtig, dass Menschen sich nicht schon früh in ihrem Leben festlegen (lassen) müssen und die Dinge so tun, wie sie sie sie tun. Nämlich unvollkommen.

Hier könnt Ihr feiern und euch im Nichtlernen probieren:
Learn Nothing Day via unerzogen
Sachsen/Anhalt liegt nicht hinter dem Mond

Samstag, 11. Juli 2009

Der Mensch ist des Menschen Plage

Eine Leseempfehlung

Eine Gapperplage - Das ist die Liebe, die uns umbringt. Schrill und orange. Gapper am eigenen Leibe. Aber so weit kommt es noch, von wegen! Das Buch Die furchtbar hartnäckigen Gapper von Frip ist bebilderte Literatur vom Feinsten. Ich schätze, es handelt sich um ein Kinderbuch. Welchen erwachsenen Mensch dürften schon Gapper interessieren. Lest dennoch, Ihr alten Leute! Der Titel führt auf eine falsche Fährte. Im Mittelpunkt steht nicht die problematische Beziehung, die Gapper zu Ziegen haben. Erwachsene Nebenfiguren machen aus dem, was ein lustiges Gapperkinderbuch hätte werden können, eine schlimme Geschichte. Hartnäckig halten sie an ausgebufften Glaubenssätzen fest - alles ist gut, solange es bleibt, wie es war! selber schuld! jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und sich selbst der Nächste! -, so hartnäckig dass die Geschichte ein furchtbares Ende in einem Sumpf zu nehmen droht. Die Erwachsenen von Frip haben definitiv problematische Beziehungen zu sich selbst, zueinander und zu Kindern.

Jedes lesende Kind wird Mitleid mit den Kindern von Frip haben, die statt Schulbüchern Gappersäcke schultern müssen. Doch, liebe Kinder, stellt euch vor, was wäre eine Kindheit ohne Gapper!

Buchcover

Unbedingt lesen und mitleiden!

George Saunders (Text) Lane Smith (Illustrationen) (2000) The Very Persistant Gappers Of Frip. New York // dt. von Frank Heibert (2004) Die furchtbar hartnäckigen Gapper von Frip. Berlin